Ein erweiterter Zeitbegriff: Die Brücke zwischen Relativitätstheorie und Quantenphysik

 


Die Physik hat Probleme mit dem sequenziellen Zeitverständnis und dem damit verbundenen Begriff von Zeit, weil dieser nicht zum sich noch Ereignen von Wirklichkeit passt.

In der Physik spielt die Schrödinger-Gleichung eine zentrale Rolle. Sie basiert auf einem linearen Zeitkonzept und sagt uns über die sogenannte Wellenfunktion die Wahrscheinlichkeit für mögliche Fakten voraus. Wie aus unzähligen Möglichkeiten heraus eine einzige zum Faktum wird, kann die Physik bis heute nicht beschreiben. Abhilfe kann hier nur ein erweiterter Zeitbegriff schaffen, der auch präkausales Sich-Ereignen berücksichtigt – also das, was sich noch in der nicht-lokalen Raumzeit der Gegenwart zuträgt. Der sequenzielle Zeitaspekt und die Kausalität sind in der Tat zwei Seiten einer Medaille. Kausalität lässt sich nur formulieren, wenn man als Hintergrundschablone eine sequenzielle Zeitstruktur verwendet. Umgekehrt kann ich sequenzielle Zeit nicht sinnvoll formulieren, wenn mir nicht die kausalen Zusammenhänge bekannt sind.

In der Relativitätstheorie ist der Zeitbegriff sequenziell. In der Quantenphysik ist der Zeitbegriff anders. Um eine Brücke zwischen den beiden Theorien zu schlagen, braucht man einen neuen erweiterten Zeitbegriff. Dabei sind bereits in beiden Theorien die Türen zur jeweils anderen, komplementären Wirklichkeitsbeschreibung angelegt.

Immanuel Kant hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass Raum und Zeit die Voraussetzung für die Beschreibung der Wirklichkeit sind, aber nicht selber Gegenstände der Beobachtung sind. Heute gehen wir mit Kant über Kant hinaus und sagen, dass es nicht nur zwei Elemente, Raum und Zeit, sondern vier Elemente gibt, die zusammen eine gedankliche Brille bilden, mit der wir auf die Wirklichkeit schauen. Diese vier Elemente sind die lokale Raumzeit, die binäre Logik, die Kausalität und die vollständige Separierbarkeit von Subjekt und Objekt.

Der Zeitbegriff muss grundlegend erweitert und akzeptiert werden, dass Zeit zwei komplementäre Aspekte besitzt. Der eine ist der sequenzielle und der andere ist derjenige, den wir aus unserem subjektiven Erleben als Gegenwartszeitraum empfinden und als Gegenwart bezeichnen. Edmund Husserl führte die Begriffe Protention und Retention ein und meinte damit, dass unser Gehirn ein wenig in die Zukunft vorgreift und zugleich auch etwas aus der Vergangenheit aktiv hält. Das wird dann zu einer subjektiven Wahrnehmung eines Gegenwartszeitraums vermischt. Beim sequenziellen Zeitbegriff ist die Gegenwart hingegen nur ein ausdehnungsloser Schnittpunkt von Vergangenheit und Zukunft und damit eigentlich gar nicht existent.

In der Physik wird derzeit ein linearer Zeitbegriff verwendet, der von Husserl postuliert wurde. Der Philosoph Albrecht von Müller schlägt vor, dass die Physiker stattdessen den psychologischen Zeitbegriff übernehmen sollten. Er glaubt, dass der Gegenwartszeitraum die eigentliche, ursprüngliche Form der physikalischen Zeit ist. Zeit ist demnach zunächst inhärent nicht-lokal und bietet gleichsam die Bühne, auf der sich Wirklichkeit überhaupt erst abspielen kann. Erst wenn auf dieser Bühne bestimmte Geschehnisse eingetreten sind, sich also Ereignisse zum Faktum kristallisiert haben, erst dann lassen sich diese Fakten linear wie an einer Perlenschnur aufreihen. Diese sequenzielle Zeit ist im erweiterten Zeitbegriff eine abgeleitete Erscheinung.

Gegenwart setzt sich tatsächlich aus Vergangenheit und Zukunft zusammen. Dieser nicht-lokale Zeit-Raum der Gegenwart ist die grundlegende Form der physikalischen Zeit. Unsere Gehirne haben sich im Laufe der Evolution an diese objektive Eigenschaft der Zeit, das heißt den nicht-lokalen Gegenwartszeitraum angepasst.

Der Psychologe Ernst Pöppel hat entdeckt, dass unser Gehirn mit einem Drei-Sekunden-Fenster der Wahrnehmung arbeitet und dieser Zeitraum als Gegenwart empfunden wird. Diese Erkenntnis spiegelt die fundamentalen Aspekte der Zeitwahrnehmung wider. Wir können Zeit entweder als Verlauf wahrnehmen, wie sie von Uhren angezeigt wird, oder wir haben das subjektive Empfinden von Gegenwart. Albert Einstein hat dem Philosophen Rudolf Carnap gesagt, für ihn bestünde das größte Problem der Relativitätstheorie darin, dass sie keinen Platz für das Phänomen der Gegenwart habe. Dieser Satz belegt Einsteins große philosophische Bedeutung.

In der Quantenphysik sind die Messergebnisse abhängig vom Beobachter und damit letztlich vom menschlichen Gehirn. Wenn etwas gemessen wird, wird es zu einem Faktum. Im Englischen gibt es dafür den Ausdruck „taking place“, also das Einnehmen eines wohldefinierten Orts in Raum und Zeit. Dieses Taking-Place erfordert eine Konkretisierung, die die Rolle des Beobachters in der Quantenphysik ist. Mit steigender Kultur und Zivilisation nimmt allerdings die Fähigkeit ab, das Ganze wahrzunehmen. Kunst wäre dagegen einer der besten Zugänge zu einer tieferen, angemesseneren Form der Erfahrung von Zeit und Wirklichkeit.