Jahrhunderte lang versteckt.
Forscher finden echten Merlin-Text!
Manchmal braucht es moderne Technik, um alte Geheimnisse zu lüften. In der Bibliothek der University of Cambridge haben Forscher ein außergewöhnliches Fragment entdeckt – und zwar dort, wo man es am wenigsten vermuten würde: im Inneren eines Bucheinbands. Was sie fanden, ist ein wahres Juwel der mittelalterlichen Literaturgeschichte – ein Teil der legendären Merlin-Sage, sorgfältig von Hand auf Pergament geschrieben und jahrhundertelang vergessen.
Vom Heldenepos zum Einband
Die Seiten stammen aus der altfranzösischen „Suite Vulgate du Merlin“, einer Sammlung von Geschichten über den Zauberer Merlin, die eng mit dem berühmten Lancelot-Gral-Zyklus verbunden sind. Diese umfangreiche Erzählwelt um König Artus, Sir Lancelot, Ritter Gawein und die Tafelrunde war im Mittelalter ein echter Bestseller – vor allem, weil sie alles enthielt, was das Publikum liebte: Magie, Liebe, Ehre, Verrat und heldenhafte Kämpfe.
Was dieses Manuskript so besonders macht: Es wurde zwischen 1275 und 1315 angefertigt, dann aber im 16. Jahrhundert nicht etwa archiviert oder weitergereicht, sondern praktisch recycelt. Man faltete das Pergament, nähte es in den Einband eines Verwaltungsdokuments – einer Liste von Grundbesitz – und vergaß seine literarische Bedeutung über die Jahrhunderte.
Gerettet durch Technik
Als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität 2019 auf die ungewöhnliche Bucheinbandstruktur stießen, war zunächst unklar, was sich darin überhaupt verbarg. Das Pergament war abgenutzt, beschädigt und nicht einfach zu lesen. Um die wertvolle Substanz nicht weiter zu gefährden, entschieden sich die Fachleute für eine rein digitale Untersuchung.Mittels Multispektralfotografie, Computertomografie und 3D-Scanning konnten sie den Text virtuell „auffalten“, ohne das Original zu zerstören. So gelang es ihnen, die altfranzösische Handschrift sichtbar zu machen – samt kunstvoller Initialen in Rot und Blau.
Die Geschichte, die im Einband schlummerte
Der entdeckte Abschnitt schildert eine dramatische Episode aus der Merlin-Sage: In der Schlacht von Cambénic reitet der Ritter Gawein auf seinem treuen Pferd Gringalet in den Kampf. An seiner Seite kämpfen sein Vater und seine Brüder – vereint als christliche Ritter gegen die heidnischen Sachsen. Als Waffe führt Gawein niemand Geringeres als Excalibur, das legendäre Schwert von König Artus.
Ein weiterer Teil des Fragments spielt direkt am Hof von Artus, wo Merlin sich als Musiker verkleidet und mit magischen Tricks für Unterhaltung sorgt – ein weiteres Beispiel für die Verbindung von List, Magie und höfischer Kultur, die diese Geschichten so besonders macht.
Mehr als ein literarischer Fund
Der Fund ist nicht nur ein faszinierendes Stück Literaturgeschichte, sondern auch ein Hinweis auf den praktischen Umgang mit alten Texten in der frühen Neuzeit. Damals wurde Pergament oft wiederverwendet – nicht aus Respektlosigkeit, sondern aus schierer Notwendigkeit. Dass gerade ein solch bedeutender Text überlebt hat, ist daher ein seltener Glücksfall.
Interessant ist auch der soziale Kontext: Die altfranzösische Sprache der Handschrift weist darauf hin, dass adlige Kreise – insbesondere Frauen am Hof – zur Zielgruppe gehörten. Nach der normannischen Eroberung Englands 1066 war Französisch über Jahrhunderte hinweg die Sprache des Hofes und der gehobenen Bildungsschicht.
Was als unscheinbarer Bucheinband begann, entpuppte sich als kostbares Fenster in die Welt des mittelalterlichen Erzählens. Dank moderner Technik konnten wir nicht nur ein vergessenes Kapitel der Merlin-Sage wiederentdecken, sondern auch ein Stück europäischer Kulturgeschichte neu beleuchten.
Die Geschichten von Merlin und den Rittern der Tafelrunde haben nie aufgehört, Menschen zu faszinieren. Dass sie jetzt – Jahrhunderte später – aus einem Buchdeckel heraus wieder zum Leben erwachen, ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie Vergangenheit und Gegenwart auf überraschende Weise miteinander verbunden sind.